«Dichte und Enge sind nicht das Gleiche»

Das Kompetenzzentrum Typologie & Planung in Architektur (CCTP) an der Hochschule Luzern erforscht die Wechselbeziehung zwischen Menschen und Architektur.

Typologie & Planung
Ein Siedlungscoach koordiniert das soziale und kulturelle Leben in einer Siedlung. Vor allem Genossenschaften haben diese Stelle geschaffen.
Interview zur Transformation von gebautem Lebensraum
Das Interview führte Senta van de Weetering (Text)
Die Coronapandemie lässt uns die Enge der Städte fürchten und ein Eigenheim auf dem Land attraktiver erscheinen. Hat Corona der Idee des verdichteten Wohnens den Garaus gemacht? Nein, sagt Peter Schwehr, Experte für Stadtentwicklung, und erklärt, warum Verdichtung nach wie vor eine Chance ist.
Das Kompetenzzentrum Typologie & Planung in Architektur (CCTP) an der Hochschule Luzern erforscht die Wechselbeziehung zwischen Menschen und Architektur. Im Zentrum der wissenschaftlichen Arbeit steht die strategische Transformation von gebautem Lebensraum. Prof. Dr. Peter Schwehr, Leiter Kompetenzzentrum Typologie & Planung in Architektur, äussert sich im Interview, wie sich die pandemische Situation und die damit verbundenen Einschränkungen auf das verdichtete Wohnen auswirken können.Peter Schwehr, müssen wir unsere Städte für die Zukunft pandemietauglich gestalten?
Nein, wir müssen sie bedürfnisgerecht gestalten, dann sind sie auch pandemietauglich. Ein Siedlungscoach hat das mit einem konkreten Beispiel gut zusammengefasst. Er sagte zur Situation im Lockdown: «Wo Kinderlärm vor der Krise schon gestört hat, sind Konflikte im Zusammenleben eskaliert.»

Was ist ein Siedlungscoach?
Ein Siedlungscoach koordiniert das soziale und kulturelle Leben in einer Siedlung. Vor allem Genossenschaften haben diese Stelle geschaffen, aus der Einsicht heraus, dass das Soziale der entscheidende Mehrwert einer Siedlung ist. Oft fokussiert man sich ja auf das Bauliche, wenn man an Siedlungen denkt; der soziale Aspekt des Zusammenlebens wird vernachlässigt. Dadurch entstehen aber seelenlose Quartiere und keine qualitativ hochwertig verdichteten Gebiete. Und damit wären wir wieder bei Corona: Die Pandemie hat uns gezeigt, wie wichtig eine gute Nachbarschaft ist.

Dennoch haben laut Medien grössere Wohnungen und solche auf dem Land Hochkonjunktur. Ist das nicht ein Indiz dafür, dass die Verdichtung der Städte nicht mehr attraktiv ist?
Ich halte den Rückzug ins Eigenheim auf dem Land für einen kurzfristigen Trend und nicht für ein Indiz. Das ursprüngliche Problem bleibt ja: Wir müssen haushälterisch mit dem Boden umgehen. Daran hat Corona nichts geändert. Die Pandemie macht einfach noch deutlicher sichtbar, dass Dichte und Enge nicht das Gleiche sind.

Können Sie diesen Unterschied erläutern?
Eng wird es da, wo auf wenig Platz viele Wohnungen untergebracht sind, ohne dass der Raum zwischen den Wohnungen und Häusern und das soziale Zusammenleben in die Planung einbezogen wurden. Eine qualitätsvolle Verdichtung hingegen bedeutet, dass diese Nähe mit einem durchdachten Konzept für den gemeinsam genutzten Raum gestaltet wurde, dass Begegnung und Austausch, aber auch Rückzug möglich ist. So gesehen, ist Corona eine Chance: Die jetzige Situation drängt uns, qualitätsvolle Verdichtung weiterzuentwickeln, damit sie zu einem Mehrwert für das Quartier wird.

Sie haben Thinktanks mit internationalen Fachpersonen durchgeführt, um aus der Coronakrise Lehren für das verdichtete Wohnen zu ziehen. Was waren die wichtigsten Resultate?
Zunächst einmal: Es ging in diesen Workshops nicht darum, wie wir unsere Städte auf die aktuelle Situation ausrichten können, sondern darum, wie uns die jetzige Extremsituation näher an allgemeine Fragen heranführen kann: Was macht Siedlungen verletzlich? Was macht sie handlungsfähig? Was macht sie resilient? Was durch den Lockdown ganz deutlich wurde: Die einzelne Wohnung muss entlastet werden. Dafür braucht es räumliche Ergänzungsmöglichkeiten in der Siedlung und im Quartier, damit nicht das Gefühl von Stress entsteht, sondern von Mehrwert.

Wie kann diese Entlastung aussehen?
Einerseits müssen wir dafür Synergien nutzen, andererseits braucht es hybride, multifunktionale Strukturen. Synergien nutzen bedeutet, geteilte Räume für einen bestimmten Zweck zur Verfügung zu stellen, die dann auch besser ausgerüstet sind, als man sich das im Normalfall in der eigenen Wohnung leisten kann. Zum Beispiel ein Raum, der als Büro genutzt werden kann – wenn die Kosten geteilt werden, kann man sich auch einen guten Drucker leisten, anstatt dass alle ein Büro in der eigenen Wohnung einrichten. Oder ein Näh- und Bügelzimmer. So braucht man nicht die eigene Wohnung vollzustellen und teilt erst noch eine ausgezeichnete Nähmaschine. Es braucht auch nicht jede Wohnung ein Gästezimmer, das nur drei Wochen im Jahr genutzt wird.

Solche Gemeinschaftsräume funktionieren allerdings nur, wenn sie gut organisiert sind, sei das durch einen Siedlungscoach oder selbstverwaltet mit einem klaren Konzept. Sonst entsteht zu viel Reibungsfläche. Zusätzlich braucht es aber auch Aussenräume rund um das Haus, die sich die Bewohnenden als Begegnungsorte für einen formellen und informellen Austausch aneignen können.

Und was hat es mit den hybriden, multifunktionalen Strukturen auf sich?
Homeoffice und Homeschooling sind Extremstresstests für unsere Wohnungen. Während der wärmeren Jahreszeit nutzten die Leute den Aussenraum. Der Winter zeigt uns jetzt, dass es für Gebäude und Quartiere auch Innenräume braucht, die gemeinsam genutzt werden können und so den Druck von den Wohnungen wegnehmen. Wir reden hier von Räumen, die je nach Bedarf mit wenig Aufwand umgestaltet werden können, beispielsweise ein Gemeinschaftsraum, der zu einem provisorischen kleinen Lernraum für die Kinder umfunktioniert wird. Solche Räume müssen nicht perfekt eingerichtet sein. Wichtig ist, dass sie einfach umgestaltet werden können.

Das bedeutet also, nicht alles für die Ewigkeit festzulegen?
Genau. Das ist ein weiterer wichtiger Punkt: Es braucht fehlertolerante Strukturen. Wenn wir bauen, dann denken wir ja meist in einem Zeitrahmen von mindestens einem Jahrhundert. Es ist wichtig, dass man bei der Planung von Quartieren in grösseren Zusammenhängen denkt und soziale Bewegungen wie Migration oder Entwicklungen wie die Digitalisierung berücksichtigt. Dennoch wissen wir nicht, was in 50 Jahren gebraucht wird. Hier sind Gebäude sinnvoll, die man ohne grossen Aufwand umbauen oder sogar wieder rückbauen und bei denen man das Material wiederverwenden kann. Das braucht aber Mut zum Unfertigen. Wir müssen keinen perfekten Raum schaffen, denn Perfektion ist ein Endzustand – eine Stadt hingegen entwickelt sich immer weiter.

hslu.ch

Prof. Dr. Peter Schwehr
Prof. Dr. Peter Schwehr, Leiter Kompetenzzentrum Typologie & Planung in Architektur an der Hochschule Luzern. Foto: HSLU
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