«Digital Twins sind mehr als digitale Abbilder»
Natürlich wäre es optimal gewesen, wenn die BIM-Methode bereits von Beginn an verwendet worden wäre. Für unser Vorhaben – einen digitalen Zwilling des Gebäudes zu erstellen – ist dieses Versäumnis aber sekundär.
Natürlich wäre es optimal gewesen, wenn die BIM-Methode bereits von Beginn an verwendet worden wäre. Für unser Vorhaben – einen digitalen Zwilling des Gebäudes zu erstellen – ist dieses Versäumnis aber sekundär. Dass wir den neuen FHNW-Campus Muttenz digital abbilden und als Digital Twin interaktiv mit dem realen Bau vernetzen, ist vor allem eines: pragmatisch. Es geht uns bei diesem Projekt nicht darum, das Campusgebäude als solches zu vernetzen, sondern darum, diese Vernetzung exemplarisch aufzuzeigen und mit unseren Studierenden zu erforschen.Und wozu dient dieses Modell?
Oft werden Konzepte in diesem Bereich nur theoretisch vermittelt, wir wollen aber eine Lehre mit Hands-on-Möglichkeiten bieten. Zudem gilt es, das Internet of Things (IoT) konzeptuell mit Virtual Design and Construction (VDC) zu verknüpfen. Dafür hätten wir im Prinzip auch ein beliebiges Gebäude nehmen können. Gleichwohl ist es für uns aber auch interessant, gerade den Campus, in dem wir forschen und lehren, zu verwenden. So können wir den Digital Twin auch weiter in der Verwendung während der Betriebsphase untersuchen.
Sind allenfalls weitere digitale Zwillinge der FHNW geplant?
Da es sich beim Digital Twin um ein noch sehr junges Konzept der Planungs-, Bau- und Immobilienbranche handelt, das aus verschiedenen Perspektiven unterschiedlich gefüllt und definiert wird, wollen wir mit unserem Projekt aus wissenschaftlicher Sicht zur Klärung beitragen. Unser Digital-Twin-Prototyp ist deshalb auch als Anschauungsobjekt gedacht. Wir benutzen es sowohl in der Lehre, in der Forschung und im Dialog mit der Praxis, um aufzuzeigen, was das Konzept des Digital Twin verspricht und welche Fragen bei der Anwendung zu klären sind. Es ist demnach vielmehr als «Proof of Concept» denn als Produkt zu sehen. Uns geht es darum, die Idee des Digital Twin zu schärfen und verständlich aufzuzeigen.
Welche Fragen müssen rund um Digital Twins geklärt werden?
Oft wird davon ausgegangen, dass eine virtuelle Abbildung eines Gebäudes bereits ein Digital Twin ist. In unserem Verständnis des Konzeptes geht ein Digital Twin aber weit über eine Abbildung hinaus: Er ist interaktiv mit dem realen Zwilling verknüpft und ermöglicht so Einblicke, Auswertungen und Eingriffe in Echtzeit. Gleichermassen kann das Gebäude mithilfe des Digital Twin aber auch in die Vergangenheit und in die Zukunft simuliert werden. Ein Digital Twin ist zeitungebunden, bildet aber Echtzeit ab. Dadurch bietet er eine Vielzahl von Nutzungsmöglichkeiten – um diese ausloten zu können, muss aber vorher geklärt werden, was der Digital Twin erreichen soll. Nebst diesen konzeptionellen Fragen müssen dann Umsetzungsfragen geklärt werden. Zum Beispiel: Welche Daten müssen erhoben werden? Wie werden diese erhoben? Wie werden diese zusammengeführt und vereinheitlicht? Das Konzept des Digital Twin erscheint einfach, ist aber komplex sowohl in der Konzeption als auch in der Umsetzung.
Was galt es, hinsichtlich der Gebäudetechnik zu beachten?
Der FHNW-Campus Muttenz besitzt bereits eine gut funktionierende Gebäudeautomation, die zum Beispiel Temperatur, Lüftung und Storen auf die tatsächliche Nutzung abstimmt. Diese verwenden wir auch für den Digital Twin, indem wir die Daten der Gebäudetechnik mit dem digitalen Bauwerksmodell verbinden. Es gibt nicht mehr verschiedene unabhängige Systeme, sondern alle Daten werden zentralisiert ausgewertet und reagieren aufeinander. Das hilft, Prozesse zu optimieren.
Und was ist der Unterschied zur Gebäudeautomation?
Die Gebäudeautomation wird um das Digital-Twin-Konzept erweitert: Es gibt bereits komplexe Gebäudeautomationssysteme wie auf unserem Campus. Durch die Daten des digitalen Bauwerksmodells, genau genommen durch die Geometrien und Eigenschaften der Bauelemente, eröffnen sich aber weitere Nutzungsszenarien. Diese ergeben sich, weil die Daten kombiniert werden können und auch für Maschinen lesbar sind.
Welchen konkreten Nutzen hat der Digital Twin?
Die Anwendungen können je nach Gebäudeart und Einsatzgebiet (Facility-Management, Sicherheit, Energie usw.) unterschiedlich sein. Mithilfe des Digital Twin könnten wir alljährlich auswerten, wie viele Menschen sich in welchen Räumen befunden haben, und dann simulieren, wie sich diese Nutzung auf das Alterungsverhalten auswirkt. Das Facility-Management wird zudem mit wenigen Klicks feststellen und auswerten können, in welchen Räumen wann Reparaturen vorgenommen werden müssen, und kann das bereits – mithilfe statistischer Daten – Jahre voraus kalkulieren. Ebenso könnte in Notfallsituationen dank der Kombination von Gebäudegeometrie und Echtzeitinformationen einfach und schnell Auskunft darüber gegeben werden, wo sich Personen im Gebäude befinden, wo es gerade brennt und wie ein auf die aktuellen Ereignisse angepasster Evakuierungsplan aussehen könnte. Dank Digital Twins können Lösungen für Probleme gefunden werden, die noch nicht einmal bestehen.
Die Prüfung in der Betriebsphase verläuft vollautomatisch. Wird das menschliche Handeln damit nebensächlich oder gar überflüssig?
Digital Twins vereinfachen primär die Beschaffung von Informationen zu Gebäudeprozessen. Die Informationen können durch Menschen oder Maschinen abgefragt werden, die daraufhin getätigten Interventionen können automatisch (auch durch künstliche Intelligenzen) erfolgen oder gezielt durch Menschen. Beides ist möglich, und das volle Potenzial wird wohl nur durch beide Möglichkeiten ausgeschöpft. Das menschliche Handeln ist immer fehlerhaft, den künstlichen Intelligenzen fehlt hingegen noch die Intuition. Der Einsatz von menschlicher Intervention, künstlicher Intelligenz oder einfacher Automatisierung hängt von den Anwendungsszenarien des Digital Twin ab.
Welche Bedeutung hat die Energieeffizienz?
Sie ist sehr wichtig. Mit digitalen Zwillingen kann die Effizienz wesentlich erhöht werden. Der Energieverbrauch wird in Echtzeit angezeigt, und der künftige Verbrauch kann prognostiziert oder simuliert werden.
Noch ist die Anzahl an Neubauten, die mit der BIM-Methode geplant werden, gering. Ist die Vorgehensweise der FHNW ein Plädoyer, trotzdem auch bestehende Gebäude (möglichst frühzeitig) einzubeziehen?
Wir sehen Digital Twins als grosse Chance für die Planungs-, die Immobilien- und die Baubranche. Sie können auch ein Treiber sein, um noch stärker und gezielter mit der BIM-Methode zu arbeiten und zu planen. Die Verknüpfung realer und digitaler Bauten hat immer einen grossen Nutzen. Es muss aber geklärt werden, was der Digital Twin bewirken soll: Es lohnt sich nicht, einen digitalen Zwilling eines Baus zu erstellen, wenn keine Datengrundlage zur Verfügung steht, die verknüpft werden kann. Was digitale Zwillinge bringen können und welche Voraussetzungen dazu erfüllt werden müssen, sind genau die Fragen, die wir anhand unserer Projekte in diesem Bereich gemeinsam mit unseren Studierenden und Praxispartnern untersuchen. ●
Der Prototyp im Innovation Lab an der «Swissbau»
Die Hochschule für Architektur, Bau und Geomatik FHNW stellt den Prototypen des digitalen Zwillings des FHNW-Campus Muttenz im Rahmen des Innovation Lab an der «Swissbau» 2020 vor (Halle Süd / Stand L 75). Das Projekt wurde finanziert von der Stiftung FHNW und vom Lehrfonds FHNW. Der Prototyp kombiniert ein digitales Bauwerksmodell von einem Teil des Campus und ein mithilfe von 3-D-Druck-Technologien nachgebautes Modell, das mit Sensoren ausgestattet wurde. Die beiden Zwillinge sind interaktiv verknüpft und ermöglichen einen Einblick in komplexere Automationsalgorithmen und eine mögliche Nutzung eines Digital Twin: Das physische Modell wird mit simuliertem Tageslicht bespielt. Auf dem digitalen Zwilling ist gleichzeitig zu sehen, wie die Beleuchtung im Gebäude darauf reagiert. Die Daten zur Beleuchtung können ausgewertet werden, und es kann vor Ort auf die Beleuchtung eingewirkt werden. Das ermöglicht den Besuchenden einmalig, das Konzept des Digital Twin kennenzulernen und interaktiv zu erforschen.
Dr. Wissam Wahbeh und weitere Experten der FHNW werden vor Ort sein und stehen gern für Fragen zu diesem und weiteren Forschungsprojekten der Hochschule für Architektur, Bau und Geomatik FHNW zur Verfügung.