Siedlungsbau – Emanzipierung von den industriellen Wurzeln
Die seit 20 Jahren andauernde Entwicklung des Gebiets wird bisweilen von Nachwehen des Sulzer-Areals beeinträchtigt.
Oberwinterthur hat in den vergangenen Jahren zunehmend an überregionaler Strahlkraft gewonnen. Inmitten des Stadtteils von Winterthur befindet sich das Areal der Quellenhof-Stiftung und der Kirche GVC mit Stiftungsbetrieben, Büros und der bekannten Veranstaltungshalle Parkarena, die Platz für bis zu 1250 Besuchende bietet.Standort ist zugleich das ehemalige Sulzer-Areal, dessen Historie bis 1834 zurückreicht. Ab 2000 wurde es sukzessive saniert und neuen Nutzungen zugeführt. Ehemalige Gebäude wichen dafür unter anderem dem Eulachpark, der eine besondere Bedeutung bei der Neugestaltung hatte. Ausgangspunkt war eine Vereinbarung zwischen der Firma Sulzer und der Stadt Winterthur. Diese Vereinbarung hielt fest, dass in Anrechnung an die in der Bau- und Zonenordnung festgesetzten Freiflächenziffer die Firma Sulzer der Stadt Winterthur 60 000 Quadratmeter Land unentgeltlich abtritt. «Im Gegenzug verpflichtete sich die Stadt, auf ihre Kosten die Parkanlage zu erstellen. Mit dieser Vereinbarung ging die Stadt ein erhebliches Risiko ein, da die ehemalige Giesserei der Firma Sulzer doch etliche kontaminierte Böden hinterliess. «Diese grüne Lunge als Teil einer neuen Stadt in der Stadt war für viele Investoren jedoch die Initialzündung zum Kauf der an den Park angrenzenden Grundstücke», erklärt Joe Leemann, Gesamtleiter Geschäftsleitung der Quellenhof-Stiftung, die auch zu den Käufern zählte. Inzwischen haben sich die Bodenpreise vervielfacht, die Verdichtung ist stark gestiegen.
Der Weg zu Neuem
«Unterdessen forcierte die Stadtentwicklung Winterthur den Ausbau des Stadtteils Neuhegi als zweites Stadtzentrum. Grüze, Oberwinterthur und Hegi sollen die drei Eingangsbahnhöfe bilden», sagt Joe Leemann. Das Areal unterteilt sich künftig an der Sulzerallee als Trennungslinie in Industrie und Wohnen. Ein Projekt vereint die vielfältigen Nutzungen beider Bereiche: Townvillage, bestehend aus fünf Gebäuden auf 10 000 Quadratmetern. Es liegt im Mittelpunkt der drei Eingangsbahnhöfe sowie im gleichzeitigen Schnittpunkt von Sulzerallee und Seenerstrasse, die einst durch das gesamte ehemalige Sulzer-Areal führte und noch heute eine der Haupterschliessungsachsen ist. «Die Vision der Stiftungsleitung mit Mehrgenerationenwohnungen nach dem Prinzip der Nachbarschaftshilfe wurde Ende 2020 in zwei Etappen mit der Arealüberbauung realisiert, welche die bestehenden Nutzungen optimal ergänzt», erklärt Alain Ettlin, Architekt und Projektleiter von Eins Architekten AG. Möglich machte das der Umbau eines bestehenden Kongresszentrums und historischen Industriegebäudes. «Der Klinkerbau mit Pilzstützen im Inneren ist der älteste Bau des Areals und stammt noch aus der Sulzer-Zeit. Dieser steht direkt auf der Baulinie und war deshalb ausnutzungstechnisch besonders wertvoll. Mit der kurzen Distanz zur Strasse wäre das neu nicht zu realisieren gewesen», sagt der Architekt. Zusätzlich entstanden drei Neubauten, die unter anderem zur Umstrukturierung der vorhandenen Nutzungen beitragen und das bestehende Kongressgebäude umgeben. «Townvillage am Park und Mitte» fasst 53 Wohnungen, Büros, öffentliche Räume und das «Townvillage Care». Spit-in-Dienste richten sich an ältere und pflegebedürftige Bewohnende, und eine Tagesstätte bietet strukturfördernde Gemeinschaft sowie Unterstützung im Alltag. Der Südbau bündelt hingegen Werkstätten, Ateliers, Ausbildungsplätze und acht Wohnungen. Damit entstanden gesamthaft 61 Mehrgenerationenwohnungen, eine Kindertagesstätte, drei Veranstaltungssäle und ein Foyer mit einem Restaurant, das mit einer Catering-Grossküche ergänzt wird. Das möglichst transparent gestaltete Erdgeschoss verfügt über publikumsorientierte Nutzungen wie Restaurants, Gemeinschaftsräume und eine durchgängig geöffnete Rezeption, die zugleich zum zentralen Platz des Quartiers ausgerichtet sind.
Respektvoll dimensioniert
Die Baukörper bilden in Dimensionierung und Form eine Verbindung zu den historischen Bestandsbauten und jüngeren Wohnbauten in der Nachbarschaft. «Die Umsetzung als Arealüberbauung statt in der Regelbauweise eröffnete uns mehr Möglichkeiten hinsichtlich der Geschosse und der vertikalen Verdichtung. Ein sechsstöckiger, 2019 fertiggestellter Baukörper mit Werkstätten, Büros und Wohnungen bildet das südliche Gesicht des Areals und besetzt den weitläufigen Freiraum um die Sulzerallee», sagt Alain Ettlin. Anschliessend entstand ein zweiter Neubaukörper im Norden des Areals mit Gebäudefluchten entlang der Barbara-Reinhart-Strasse. Der dritte Neubau in der Mitte des Areals überragt mit einem Ende einen zentralen Platz, der als grosszügiger Aussenraum die verschiedenen Nutzungen sowie die neuen und alten Gebäude zusammenbringt. Dieser Freiraum verknüpft die bestehende Parkarena mit einem grossen Foyer mit Bistro und einem Konferenzsaal. Darüber befindet sich ein Dachgarten, der insbesondere den direkt angrenzenden Mehrgenerationenwohnungen als attraktiver halb öffentlicher Begegnungs- und Aufenthaltsbereich dienen soll. Im ersten Obergeschoss positioniert, wirkt die Dachterrasse wie ein hochgelegener Hof, umgeben von privaten laubenartigen Balkonen. Eine Brücke verbindet die Dachterrasse zudem mit dem umgebauten historischen Sulzer-Fabrikgebäude und den im Obergeschoss befindlichen neuen Kinderbetreuungsräumen.
In Anlehnung an den Bestand
Konstruktion und Fassadengestaltung der Neubauten orientieren sich an der Skelettbauweise markanter Winterthurer Industriebauten, ausgefacht mit voll dämmenden Holzelementen. Da sich der Komplex an der räumlichen Schnittstelle zwischen den Wohngebieten im Osten und den Arbeitsgebieten im Westen des ehemaligen Sulzer-Areals befindet, wurde mit der Fassadengestaltung die Verbindung zur ortstypischen industriellen Bauweise gesucht. «An der Sulzerallee gelegene, klassische, mit gelben Klinkersteinen ausgefachte Betonskelettbauten mit kleinteiligen Fenstern dienten als Referenz», so Alain Ettlin. Das Tragwerk der Neubauten zeichnet sich mit breiten Lisenen und Gurten in Aluminium an der Gebäudehülle ab und ist mit mehrheitlich kleinteiligen Fenstern und Holzelementen ausgefacht. Die Gebäudehülle der Neubauten entspricht dem SIA-Effizienzpfad Energie, SIA 2040. Townvillage ist zudem an das Fernwärmenetz angeschlossen. Die von der Photovoltaik auf dem Dach erzeugte Energie wird überwiegend zum Eigenverbrauch genutzt.
Neues Stadtzentrum als Herausforderung
Winterthur war einst eine klassische Industriestadt, die sich zunehmend zu einer Studentenstadt mit stark belebter Altstadt entwickelt hat. Bis Neuhegi jedoch ein zweites Stadtzentrum ist, bedarf es noch einiger Entwicklungsschritte. Diese sollen unter anderem zwischen ortsansässigem Gewerbe, Vereinen und Initiativen sowie der Stadtentwicklung Winterthur in Fokusgruppen ausgetauscht werden. Was das Areal mitunter bereichern könnte, wäre laut dem Architekten ein langfristig ansässiges Gewerbe: «Diesbezüglich herrscht noch eine zu hohe Fluktuation. Läden und Gastronomie wären eine wichtige Attraktion, wovon es hier noch zu wenige in Gehdistanz gibt. Stattdessen zieht es die Leute überwiegend in grosse Shopping-Malls der umliegenden Gebiete.» Partnerschaften der Stiftung könnten zur Besserung beitragen, so konnten bereits viele Lernende an verschiedene Industriezweige vermittelt werden. Weiterhin gilt es, die logistischen Voraussetzungen zu schaffen. Denn laut Joe Leemann sind die Nachwehen der industriellen Vergangenheit weiterhin spürbar, wodurch potenzielle Verbindungsstrassen wie die St. Gallerstrasse derzeit noch vereinzelt von den Nachbarquartieren abgetrennt sind: «Das ursprüngliche Sulzer-Areal war ausschliesslich Mitarbeitenden zugänglich und wurde deshalb auch als ‹verbotene Stadt› betitelt. Diese Einflüsse haben somit noch heute Bestand.» ●
Bautafel
Objekt Mehrgenerationensiedlung Townvillage
Standort Winterthur
Fertigstellung 2020
Bauherrschaft Quellenhof-Stiftung
Projektentwicklung, Projekt- bis Ausführungsplanung, gestalterische Leitung, Teilbauleitung Eins Architekten AG
TotalunternehmerMarti Gesamtleistungen AG