Progressive Instant-Legende
Neue Baugenossenschaften erproben Wohn- und Lebensformen der Zukunft. Die Architektur orientiert sich an den gesellschaftlichen Zielen. Dies geht nicht ohne Engagement und Herzblut und macht die Siedlungen schon beim Erstbezug zu Legenden. Eine Veranstaltung des Scharf (Schaffhauser Architektur Forum) in der Siedlung Wagi in Schaffhausen verdeutlichte das.
Baugenossenschaften haben in letzter Zeit mit der Entwicklung neuer, zeitgemässer Formen des Zusammenlebens von sich reden gemacht. Bekannt sind vor allem Projekte aus grösseren Städten, etwa jene der Bau- und Wohngenossenschaft Kraftwerk1 in Zürich. In kleineren Städten werden zwar kleinere Brötchen gebacken, doch sie stammen aus demselben Ofen, der mit Gedanken zur Entwicklung der Gesellschaft angeheizt wird. Für die Realisierung das jüngst fertiggestellten Wagi-Areals wurde 2018 die Legeno gegründet, eine Lebensgenossenschaft, die vom Engagement ihrer Mitglieder getragen werden soll. Treibende Kräfte waren Beteiligte von drei Architektur- und eines Landschaftsarchitekturbüros, welche gemeinsam an einem Studienauftrag für das Areal teilnahmen. Die gesellschaftlichen Ideale und die Gestaltung waren also eng miteinander verknüpft. Der Anlass vom 14. Mai 2024, eine Co-Veranstaltung des Scharf (Schaffhauser Architektur Forum) mit dem Regionalverband Schaffhausen der gemeinnützigen Wohnbauträger WBG, Teil der Vermittlungsreihe «Genossenschaftliche Wohnformen», setzte sich mit diesen Verknüpfungen und dem gebauten belebten Resultat auseinander.
Hohe Regeldichte
Heute ist vieles möglich – und manches des Möglichen gefährdet die Menschheit, wenn nicht den gesamten Planeten. Wer diese Erkenntnis teilt und die Welt sicherer machen möchte, strebt oft danach, sich einzuschränken. Die Maxime der freiwilligen Genügsamkeit ist ein wesentlicher Faktor bei der Planung von neuen genossenschaftlichen Wohnformen. Sie bedingt ein umfassendes Regelwerk. Das war bei der Wagi nicht anders, wie den Ausführungen der beteiligten Architekten Roland Hofer, Präsident Legeno, und Roger Eifler, Vorstand Legeno, zu entnehmen war. Im Quartier-Bistro im erhaltenen historischen Wagi-Kopfbau, wo die Genossenschaft als Betreiberin einen Leistungsauftrag der Stadt erfüllt, erklärten die beiden, dass das Wesen der Siedlung auf einem Soziokulturkonzept beruht. Es war das Fundament des Studienauftragskonzepts. «In der Folge haben wir Reglemente aufgebaut», erklärte Roland Hofer. Kernelement waren gemeinschaftliche Innen- und Aussenräume, respektive deren Zweckbestimmung und Verwaltung.
Auflagen und Verpflichtungen bestimmten aber auch die Architektur und deren Ausführung. Den Architekturbüros gelang es, den bestehenden Rahmenplan so zu korrigieren, dass jetzt zwei Längstrakte und ein Quertrakt einen durchlässigen Hof einfassen. Der Lärmschutz bestimmte im nördlichen Teil die Lage der Fenster und führte zu einer Raumschicht in Sichtbeton, welche die Erdgeschosswohnungen entlang der nahen, viel befahrenen Grubenstrasse mit einem Gartenhof ergänzt. Vor dieser Raumschicht verläuft ein begrünter Regenwasserretentionsgraben. Er unterstützt auf dieser Seite der Siedlung den festungsartigen Charakter der Architektur. Der nach Nordosten zum angrenzenden Einfamilienquartier hin offene Wagi-Hof ist durch eine Treppe vom «Stadtplatz» an der Grubenstrasse her ins Wegnetz eingebunden. Der Aushub wurde durch einen weitgehenden Verzicht auf eine Unterkellerung minimiert, es kamen, wenn und wo möglich, regionale Materialien und Unternehmen zum Zug.
Verzicht und Gewinn
Bei neuen genossenschaftlichen Wohnsiedlungen werden die Mietparteien mit der Perspektive einer angestrebten Diversität ausgewählt. Man wünscht sich eine gute Altersdurchmischung Es gibt für die 25 unterschiedlich grossen Wagi-Wohnungen eine Mindestbelegungszahl, Balkone fehlen und anstelle von individuellen Auto-Einstellplätzen stehen zwei Elektroautos eines Carsharing-Anbieters zur Verfügung. Manche Wohnungssuchende mögen das als Einschränkungen betrachten. Kompensiert werden sie durch den Anteil an den Gemeinschaftsräumen, zu denen neben Hof- und Gartenräumen auch zwei anmietbare Gästezimmer zählen, oder durch Pflanzflächen, die sich bewirtschaften lassen. Ein Hausverein, bestehend aus Mitgliedern der Mietparteien, kümmert sich um den Unterhalt der Siedlung. Eine aktive Beteiligung am Betrieb und dessen Planung ist also erwünscht. Legeno bemüht sich auch via digitale Plattform um den Austausch von Gegenständen und Angeboten unter den Mietparteien.
Während einer Führung durch die Siedlung konnten die rund 50 Teilnehmenden der Veranstaltung die Gemeinschaftsräume und zwei Wohnungen besichtigen. Sie wurden auch vertraut gemacht mit dem japanischen «Engawa»-Prinzip, das am Siedlungshof zur Anwendung kam. Der Begriff bezeichnet Zwischenschichten, welche private Bereiche von den öffentlichen trennen. In der Wagi sind dies die Laubengänge am Hof oder die eingezogene, etwas höher liegende Erdgeschosspartie beim gegenüberliegenden Dachgartenhaus. Sie schaffen ein Gleichgewicht zwischen Distanz und Nähe. Die Aneignung dieser Zonen und die Navigation in ihnen wird durch private Gegenstände, gerade auch der ziemlich zahlreich dort lebenden Kinder, akzentuiert, wie sich bei der Begehung feststellen liess.
Die Eindrücke des Rundgangs und die Auseinandersetzung mit der Gründungslegende konnten nach der Rückkehr ins Bistro in einer Diskussions- und Fragerunde noch etwas vertieft werden. Architektin Susanne Albrecht, Mitglied der mit Legeno verwandten Schaffhauser Genossenschaft eins, erkundigte sich bei Roland Hofer und Roger Eifler nach den massgebenden Charaktermerkmalen der Wagi und den ersten Erfahrungen mit dem Betrieb, an dem sie intensiv Anteil nehmen. Beide bestätigten, dass ein Bedürfnis der Nähe zum benachbarten Quartier bestehe. Dies schlägt sich nicht nur nieder im städtischen Leistungsauftrag für das Bistro, das eine Verbindung zur Umgebung herstellt, sondern auch in der Tatsache, dass es entlang der Parzellengrenzen keinerlei Zäune gibt. Eine Reihe von Bäumen und Sträuchern, welche das Areal zum südlich angrenzenden Schiessstand der Bogenschützinnen und -schützen trennt, wurde nicht angetastet. Die Passage vom Stadtplatz bei der Grubenstrasse durch den Hof in die Wagistrasse sei im Quartierplan als öffentlicher Weg eingetragen, sagte Roger Eifler. Die Teilnehmenden erfuhren sodann, dass die Wagi das erste Projekt der Stadt ist, das nach den Vorgaben des Merkblatts SIA 2040 realisiert wurde – eine Forderung des Rahmenplans. Das Merkblatt hat einen wesentlichen Einfluss auf den Lebensstil in der Siedlung, etwa über das Mobilitätskonzept, und schlägt gewissermassen die Brücke zu den verwandten, aber grösseren Projekten in anderen Städten.
Am 14. Mai hing noch ein Plakat beim «Stadtplatz», das die wenigen noch freien Wohnungen auflistet. Über normale Vermarktungsplattformen finde man potenziell Interessierte nicht, wusste Roland Hofer zu berichten. Am einfachsten liessen sich die kleinsten Wohnungen belegen. Doch auch die Clusterwohnung mit sieben Zimmern ist vermietet – an einen Verein, wodurch sich einzelne Wechsel einfacher abwickeln lassen. Der gewünschte Generationenmix und die sich daraus ergebende gegenseitigen Unterstützung scheint, so war den Ausführungen zu entnehmen, auf gutem Weg zu sein. Aber offenbar ist es in kleineren Städten wie Schaffhausen zumindest vorerst schwieriger als in Zürich oder Bern, geeignete Menschen als Bewohnende von Siedlungen wie der Wagi zu finden, trotz einer erwiesenermassen qualitätsvollen Architektur und einer guten, zentrumsnahen Lage. Von der Genossenschaftsleitung erfordert diese Situation ein konstantes Engagement, dies war an der Veranstaltung zu spüren.
Christian Wäckerlin, Präsident des Scharf, meinte gegen Ende der Diskussion, Schaffhausen sei im Bereich der neuen genossenschaftlichen Wohnformen etwas im Rückstand, und äusserte die Hoffnung, dass man dadurch Fehltritte, an denen ähnliche Projekte an anderen Orten leiden mögen, vermeiden kann. Allerdings zeigt die Wagi, dass alle derartigen Projekte in ihrem Wesen und eben auch in ihrem soziologischen Kontext einmalig sind. Ein genügsames Genossenschaftsvolk gibt es nicht, die Architektur muss sich jedes Mal der spezifischen Situation auch auf gesellschaftlicher Ebene annehmen. Für Architektinnen und Architekten kann der Aufwand bei solchen Projekten happig sein. Ohne eine tüchtige Portion Idealismus tut man sich das wohl nicht an. Weder Roland Hofer noch Roger Eifler konnten auf die Nachfrage von Christian Wäckerlin sagen, wann sie gedenken, dieses Projekt «loszulassen». Das sei vermutlich ein gleitender Prozess, meinte Eifler. Roland Hofer geht davon aus, dass der Hausverein allmählich übernimmt. Er denkt, dass die Umstände, die zur Gründung der Legeno führten, eine Sondersituation repräsentieren. Neue Projekte dieser Art werden über Konkurrenzverfahren abgewickelt, bei denen bereits konstituierte Genossenschaften von Beginn weg an Bord sind. ●