Transplantierte Landschaften

Natur ist heute nicht mehr gegeben, sondern gebaut. Gebirgsketten werden durchbohrt, und aus dem Material werden neue Berge konstruiert, Meere werden aufgeschüttet, um mehr Platz auf künstlichen Inseln zu schaffen.

Nicole Hartmann
Nicole Hartmann, Innenarchitektin FH/Landschaftsarchitektin MAS ETH, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe Innenarchitektur an der Hochschule Luzern – Technik & Architektur.
Natur im künstlichen Raum

Natur ist heute nicht mehr gegeben, sondern gebaut. Gebirgsketten werden durchbohrt, und aus dem Material werden neue Berge konstruiert, Meere werden aufgeschüttet, um mehr Platz auf künstlichen Inseln zu schaffen. Die Natur wird umgebaut, um den Bedürfnissen des Menschen gerecht zu werden. Insbesondere die Tourismusbranche hat sich zu einer Art Naturproduzent entwickelt. So wurden in den letzten Jahrzehnten unzählige Wellenbäder, Indoor-Skipisten und Kletterhallen errichtet, um eine von Standort und Jahreszeit unabhängige Freizeitaktivität zu ermöglichen. Aktivitäten, die bis anhin in der freien Natur stattgefunden haben, verschieben sich vom Aussen- in den Innenraum. Diese rekonstruierten Landschaften sind sicherer und komfortabler als ihre natürlichen Vorbilder.So kann etwa in Kletterhallen die Neigung der Wände variiert werden, um unterschiedliche Kletterrouten zu generieren. In Südkorea ist eine Indoor-Skipiste für endloses Skifahren geplant. Während die Fahrer sich auf einem schräg montierten, überdimensionalen Plattenteller gegen den Uhrzeigersinn abwärts bewegen, dreht sich der Untergrund rechts herum. Bleibt der Skifahrer stehen, wird er automatisch in Richtung Gipfel befördert, sodass das System ohne Skilift und Wartezeiten auskommt. Berge, die als Inbegriff des Unverrückbaren galten, sind im wahrsten Sinne beweglich geworden. Die Landschaft ist konsumierbar. Zwar bezahlt man Eintritt, dafür erübrigt sich ein Flug über den Pazifik, denn der bequem erreichbare Park in der Nähe bietet ebenso Ferien im Dschungel und am Sandstrand. In der Flughafenhalle Changi Airport in Singapur erwartet die Durchreisenden eine parkartig gestaltete Landschaft mit tropischer Bepflanzung, die 2018 mit dem grössten Indoor-Wasserfall ergänzt werden soll – gigantischen Wassermassen, die über ein Glasdach neun Geschosse in die Tiefe stürzen. Ein Spektakel, das sich der Naturelemente bedient, ohne das Abbild eines natürlichen Wasserfalls darzustellen. Derartige künstliche Landschaften werden jährlich von Millionen von Menschen besucht, die vielfach gar nicht mehr den Wunsch haben, ursprüngliche Naturräume aufzusuchen, sondern die Intensitätssteigerung simulierter Landschaften bevorzugen.

Verlandschaftlichung des Innenraums

In den mehr denn je verdichteten Städten schrumpft der Erholungsraum stetig und wird aus Platzgründen entweder aufs Dach oder in den Innenraum geholt. Vertikale Gärten scheinen da eine ideale Lösung zu sein. Sie verbessern das Raumklima und haben isolierende, wie auch schalldämmende Eigenschaften. Sie können die Raumtemperatur senken, dabei die Luftfeuchtigkeit erhöhen sowie Staub und Schadstoffe aus der Luft filtern. Eine integrierte Steuerungstechnik macht die Grünelemente zudem nahezu wartungsfrei. Selbst Tageslicht lässt sich simulieren: Mit Leuchtstoffröhren, grossen Spiegeln und viel Nebel schuf Olafur Eliasson 2003 die Illusion einer echten Sonne in der Turbinenhalle der Tate Gallery of Modern Art in London. Künstliches Tageslicht bietet nun auch das Start-Up Coelux. Die neu entwickelte Lichtquelle reproduziert das Spektrum der Sonne in Form eines Flatscreens mit blauem Himmel. Diese Technologie verspricht eine natürliche Beleuchtung in fensterlosen Räumen und soll die Stimmung verbessern, Stress reduzieren und die Entspannung fördern.

Durch die Verlandschaftlichung des Innenraumes wird die klassische Vorstellung von innen und aussen aufgehoben. Die Naturelemente verweisen auf eine ausserhalb des Gebäudes liegende Realität, stellen die Abgeschlossenheit und Vollständigkeit des Raumes in Frage und erweitern ihn nach aussen.

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