Die Wiederentdeckung des Lokalen

Zwei Jahre Pandemie haben unsere Wahrnehmung von Raum verändert. Damit die Immobilienwirtschaft auf neue Bedürfnisse reagieren kann, ist die Politik gefordert, veraltete Reglemente anzupassen.

Die Wiederentdeckung
Neue Nutzungen wie Mobilitäts-Apps und Co-Working-Spaces werden bereits erprobt, und der erste Teil der Studie «Neue Räume» hat das Bedürfnis danach erhärtet. Foto: Creafactory AG
Neue Räume
Von Claudia Gratz, Mauro Frech (Text)
Zwei Jahre Pandemie haben unsere Wahrnehmung von Raum verändert. Damit die Immobilienwirtschaft auf neue Bedürfnisse reagieren kann, ist die Politik gefordert, veraltete Reglemente anzupassen.

Weil vieles dafürspricht, dass die Pandemie dem Konzept Homeoffice nachhaltig zum Durchbruch verholfen hat, untersucht die Studie «Neue Räume» der Immobilienentwicklerin und Immobilien-Anlage-Stiftung (HIG) die damit verbundenen neuen Bedürfnisse. Denn für die Immobilienwirtschaft stellt sich auf einer Metaebene die Frage, ob es an der Zeit ist, neue Räume zu erschliessen und welche Voraussetzungen es dafür braucht.

Das Lokale wird wiederentdeckt

Die Pandemie hat die Lebensräume vom Arbeitsort zum Wohnort verlagert. Das eigene Quartier, die kleinen Parks und Spielplätze und die zu Fuss oder per Velo erreichbaren Naherholungsgebiete haben eine neue Bedeutung erlangt. Jedoch erfahren sie einen grösseren Nutzungsdruck und offenbaren einen Infrastrukturmangel, der in den meisten Schweizer Wohngebieten besteht: Es fehlt an sozialen Treffpunkten, Kaffeebars und Freizeitangeboten. Gewerbetreibende und Dienstleistungsanbietende werden sich damit auseinandersetzen müssen, wie sie dem Trend zur Dezentralisierung folgen können – etwa mit Lösungen wie den automatenbasierten Quartierläden des Start-ups Rüedu. Allenfalls sind die Grenzen zwischen kommerziellen Angeboten und subventionierten Lösungen fliessend, und die Frage, ob ein Angebot nur für die Bewohnenden einer Siedlung oder für alle Anwohnenden zugänglich sein soll, muss diskutiert werden. Aber auch jenseits kommerzieller Angebote gilt es, neue Räume zu schaffen oder zu erschliessen, die von der Bewohnerschaft einer Überbauung, einer Siedlung oder eines Quartiers gemeinschaftlich genutzt werden können. Warum nicht eine Kaffeemaschine in den Treffpunkt Waschküche stellen, warum nicht auf dem Abstandsgrün angenehme Beleuchtung installieren und die Nutzungsinitiative der Bewohnerschaft überlassen …

Homeoffice ruft nach neuen Räumen

Kritisch fällt das Fazit aus, wenn wir Homeoffice im Kontext des Wohnraums betrachten, denn viele müssen sich mit improvisierten Lösungen begnügen. Zu diskutieren ist die Frage, ob das künftige Homeoffice ein neuer eigenständiger Wohnraum, ein multifunktionaler Wohnraum oder ein Raum ausserhalb der Wohnung sein soll. Die Immobilienwirtschaft muss über Homeoffice als getrenntes Büro oder Co-Working-Space in der Siedlung nachdenken. Wo Personen mit unterschiedlichen Arbeitgebenden tätig sind, gäbe es sogar Bedarf an Bürogebäuden in Siedlungen oder Quartieren, in denen Firmen ihren Mitarbeitenden einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellen könnten.

Im Zuge der Diskussion um neue Arbeitsräume wird die Raumaufteilung einer typischen Schweizer Wohnung hinterfragt. Meist ist das Wohnzimmer heute verwaist, während jedes Familienmitglied für sich vor seinem persönlichen Device sitzt, um zu gamen, zu chatten oder Netflix zu schauen. Rückzug manifestiert sich ausserdem beim Schlafzimmer. So sind getrennte Schlafzimmer heute kein Ausdruck eines Zerwürfnisses, sondern für viele ein Bedürfnis und eine Selbstverständlichkeit. Neuer Lebensmittelpunkt einer Familie ist die Küche oder das Esszimmer. Die Küche von morgen wird weniger als offene Küche, sondern als Wohnküche gesehen. Als eigenständiger, multifunktionaler Lebensraum wird in der warmen Jahreszeit zudem die Loggia oder die Terrasse empfunden, das umso mehr, als der Nutzungsdruck auf öffentliche Freiräume durch Homeoffice und eine wachsende Bevölkerung gestiegen ist. All diese Trends sprechen für mehr Zimmer auf gleichem Raum, für Raumkonzepte, die auf das Individuum ausgerichtet und somit gestaltbar und flexibel sind.

Warum nicht eine Gästewohnung?

Beim Thema «Neue Räume» denken heute viele Menschen weniger statusorientiert als pragmatisch und ökonomisch. Gerade im Wissen, dass Wohnraum an guter Lage teuer ist, wählt man vielleicht eine kleinere Wohnung und begrüsst die Möglichkeit, bei Bedarf Zusatzräume mieten zu können. Kostengünstige Stauräume, individuell und gemeinsam nutzbare Aussenflächen wie Innenhöfe, Schrebergärten oder bedarfsweise zu mietende Ressourcen wie Büroräume, Gästezimmer und Eventlokale sind von Interesse. Vielleicht gilt es, diese Räume von Grund auf neu zu denken. Warum nicht eine Gästewohnung über Airbnb anbieten. Warum nicht Reservation, Zugang und Bezahlung über eine App steuern. Warum nicht diese Räume professionell vermarkten und verwalten lassen, statt sie der Verantwortung von Hauswarten und Mieterschaft zu überlassen. Ein erweitertes Infrastrukturangebot für Siedlungen könnte neue Services wie Warenlogistik für Lebensmittel, Pakete oder eingeschriebene Briefe beinhalten. Allenfalls sind allgemeine Concierge-Services wie Botengänge und Blumengiessen ein Anliegen der Bewohnerschaft. Schliesslich könnte eine Siedlungs-App zur Verwaltung der Mobilitätsangebote, der mietbaren Zusatzräume und der sonstigen Services von grossem Nutzen sein, um die Ressourcen effizient und konfliktfrei zu managen. Eine solche App könnte auch als Tool genutzt werden, um Sharing zu betreiben oder auf Veranstaltungen hinzuweisen und damit das Quartierleben zu fördern.

Fazit

Neue Räume denken heisst, wieder dezentraler denken. Es gilt, die Ambivalenz zwischen dem Wunsch nach Individualität und dem Bedürfnis nach Gemeinschaft sowie die Abgrenzung zwischen Arbeit und Privatem auszubalancieren. Neue Nutzungen wie Mobilitäts-Apps und Co-Working-Spaces werden bereits erprobt, und der erste Teil der Studie «Neue Räume» hat das Bedürfnis danach erhärtet. Da Politik und Gesetzgeber Arbeiten und Wohnen aber immer noch als getrennte Bereiche betrachten, lassen die heutigen Baugesetze zu wenig Spielraum, um neue Räume für eine flexiblere Arbeits- und Freizeitgestaltung in den Wohnquartieren zu entwickeln. Die Immobilienwirtschaft ist gefordert, diese neuen Räume zu erschliessen und den Wandel zusammen mit Behörden, Investierenden und Bewohnenden zu gestalten. Die Pandemie hat die Akzeptanz von Veränderung gefördert. Diesen Geist gilt es zu nutzen. ●

«Die Qualität müsste einfach stimmen. Denn die Bereitschaft, in knapperen Wohnflächen zu wohnen, ist durchaus da, sofern das Angebot an Gemeinschaftsflächen zufriedenstellend ist.»Philippe Koch, Professor für Stadtpolitik, ZHAW

«Die Champions League oder die WM sind am ehesten noch jene Momente, wo meine drei Männer gemeinsam vor dem Fernseher sitzen.»Gymnasiallehrerin

«Die Baugesetze sind 10 bis 15 Jahre alt. Gerade im politischen Rahmen braucht es künftig sehr viel mehr Spielraum. Die Politik geht immer noch davon aus, dass Wohnen und Arbeit strikt getrennt sind, und das ist einfach absolut nicht mehr zeitgemäss.»Roland Thoma, CEO Immobilien-Anlage-Stiftung (HIG)

Zur Studie

Die Studie «Neue Räume» befragt Fachpersonen und Laien in einem dreistufigen Verfahren. Im ersten Schritt wurde in einer qualitativen Erhebung das gedankliche Spektrum der Möglichkeiten, Chancen und Gefahren künftiger Entwicklungen des Immobilienmarktes ausgelotet. Im Anschluss folgt eine quantitative Befragung, und im letzten Schritt werden die Ergebnisse führender Immobilienentwicklenden in Einzelgesprächen vorgelegt. Zu ermitteln ist, welche Bedeutung die Immobilienentwicklenden den Ergebnissen der Untersuchung beimessen und wie darauf zu reagieren ist. Die Studie wird von der Creafactory AG in Zusammenarbeit mit der MRC Marketing, Research & Consulting AG im Auftrag der HIG Immobilien Anlage Stiftung erstellt.

Die Wiederentdeckung
Forcieren neue Räume eine flexiblere Arbeits- und Freizeitgestaltung in den Wohnquartieren? Foto: Creafactory AG
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