Wirklichkeitsgetreu
Baupläne unskaliert begehen? Möglich macht es das Swiss Center for Design and Health (SCDH) in Nidau. Entwürfe von Neu- und Umbauten können dort in natürlicher Grösse getestet, evaluiert und optimiert werden. Dies verhindert Unstimmigkeiten in der Planung und spart Kosten.
Wie lässt sich den unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht werden, die regelmässig in Bauprojekten aufeinandertreffen? Life is live. Deshalb ist es wichtig, die Erzeugnisse vom Planungstisch vor der Realisierung hinsichtlich der Praxistauglichkeit auf den Prüfstand zu stellen. Das Swiss Center for Design and Health (SCDH) ist ein Technologiekompetenzzentrum für Designforschung und hat mit einer Extended-Reality-Simulationsfläche darauf die entsprechende Antwort gefunden. Auf der Planungs- und Simulationsplattform «Living Lab» werden die Pläne in der Entwurfsphase mit allen Beteiligten getestet und gegebenenfalls optimiert.
Schwachstellen erkennen
Ort der Geschehnisse ist eine Industriehalle mit rund 560 Quadratmetern in Nidau bei Biel. Zwölf Beamer projizieren die Grundrisse unterschiedlichster Gebäude wie Gesundheitsinstitutionen oder öffentlichen Bauten in Originalgrösse auf den weissen Bodenbelag. Wände, Türen und Fenster werden aus Karton nachgebaut. Die Räume erhalten echtes, der Typologie entsprechendes Mobiliar oder Mock-ups. «Nicht selten lassen sich bereits beim Aufbau erste Schwachstellen und Optimierungspotential in den Plänen erkennen», erklärt Monika Codourey, Architektin und Leiterin «Living Lab» am SCDH. Bei den darauffolgenden Simulationsworkshops nehmen Projektverantwortliche wie Architektinnen und Architekten, Investierende aber auch Nutzende teil. «Es macht Sinn, alltägliche Szenarien mit allen Beteiligten möglichst realitätsnah durchzuspielen. Denn niemand kennt die geplanten Arbeitsabläufe in einem Gebäude so gut wie die künftigen Nutzenden – auch nicht die Planenden», sagt Codourey. Dies erzeugt Transparenz im Planungsprozess. Gleichzeitig kann das Verständnis der Nutzenden beispielsweise für die wirklichen Distanzen geschärft werden. Vor allem diese haben häufig Mühe, Baupläne bis ins letzte Detail zu verstehen.
Partizipativ
Das abschliessende Debriefing legt die Beobachtungen und Eindrücke der Workshop-Teilnehmenden offen. Die Fachleute des SCDH leiten die Simulationsworkshops und erweitern diese um wissenschaftliche Erkenntnisse. So unterschiedlich die Nutzenden oder Projektbeteiligten, so verschieden sind schliesslich die Meinungen zu den Simulationen. Deshalb ist es sinnvoll alle Gruppen möglichst frühzeitig im partizipativen Prozess zusammenzubringen. So werden Unstimmigkeiten in den Plänen zu einem frühen Zeitpunkt erkannt, teure Baufehler sowie allfällige folgende Korrekturen vermieden und schliesslich Kosten eingespart. Monika Codourey findet: «Das Vorgehen sollte deshalb insbesondere bei komplexen Bauprojekten zum Standard werden. Damit Architekturlösungen resultieren, die den unterschiedlichen Anforderungen gerecht werden und das Wohlbefinden aller fördern.»
Im Interview berichtet Stefan Sulzer, Managing Director des Swiss Center for Design and Health (SCDH), über die Potenziale und Herausforderungen des «Living Lab».
Seit wann existiert das «Living Lab»?
Das Living Lab wurde, gemeinsam mit der nötigen Infrastruktur im Jahr 2022 aufgebaut und ist seit dem Beginn 2023 einsatzfähig. Wobei es konstant um neue Technologien und Nutzungspotenziale erweitert wird.
Wie kam es zur Idee, Baupläne lebensgross zu simulieren?
Baupläne zu lesen und verstehen ist etwas, was für Laien nicht so einfach ist. Denn diese sind oft komplex und stets abstrakt. Die Fähigkeit, sich Räume aufgrund eines Plans vorzustellen und sich die darin stattfindenden Prozesse zu imaginieren, ist nicht allen gegeben. Nutzende reagieren ganz anders auf Simulationen realitätsnaher Räume als auf Pläne. Sie interagieren mit dem Raum, bewegen sich darin oft mit anderen Personen. Nicht alles, was auf einem Plan gut aussieht, funktioniert auch in der Wirklichkeit. Dem oft geäusserten Wunsch von Planenden, Architekturbüros und Bauherrschaften, ihre Pläne erfahrbar zu machen, wird damit Raum geschaffen.
Von welchen Vorbildern hat man sich bei der Entwicklung des «Living Lab» inspirieren lassen?
Die Vorbereitung und Evaluation eines möglichen Labs in Nidau war sehr zeitintensiv. Das Desk-Research, Reisen in die USA und innerhalt Europas zu bestehenden «Living Labs» oder Reallaboren haben uns geholfen, unsere Vorstellung des beabsichtigten Labs in Nidau zu schärfen. Bei aller gutschweizerischen Bescheidenheit lässt sich feststellen, dass das «Living Lab» des SCDH einzigartig ist. Damit meine ich nicht unbedingt die technischen Aspekte, sondern auch die Personen, die darin arbeiten. Alle haben reichlich Erfahrung und ausgeprägte Expertise in ihrem Tätigkeitsfeld. Darüber hinaus kenne zumindest ich kein «Living Lab» für Designforschung, das unter ähnlichen Bedingungen staatlich, kantonal und privat gefördert wird.
Was ist von Seiten der Kundschaft notwendig, um die Baupläne zu simulieren?
Das hängt stark vom Grad der gewünschten Simulation ab. Technisch ist das simpel. Sie schliessen den eigenen Laptop über ein HDMI-Kabel an oder senden uns eine entsprechende Datei, und schon sind die Pläne auf die Fläche projiziert. Will man nur einen ersten Eindruck eines Grundrisses erlangen, reicht eine zweidimensionale Projektion dieser Pläne auf unsere 560 Quadratmeter grosse Simulationsfläche. Möchte man aber wirklichkeitsnahe Szenarios mit realen Nutzenden simulieren, lohnt sich der Schritt in die dritte Dimension, also ein Aufbau von Räumen mithilfe unserer Leichtbauwände. Das erlaubt eine präzisere Evaluation des Raumgefühls, von Sichtachsen oder den vorhandenen Platzverhältnissen. Momentan richten wir ein «Sandbox»-Angebot ein. Damit lassen sich direkt auf einem digitalen Desk Pläne anpassen. Die Änderungen erscheinen umgehend auf der Projektionsfläche. Die Simulationsfläche bieten wir aber immer nur gemeinsam mit unseren Angeboten an.
Welche Kosten entstehen für das Angebot?
Jedes unserer Angebote ist massgeschneidert und von unzähligen Faktoren abhängig. Wie gross ist der simulierte Raum? Möchte man mehrere Varianten testen? Braucht es den Aufbau der Leichtbauwände oder reicht eine zweidimensionale Projektion? Schlussendlich entwickelt unsere Forschungsabteilung mithilfe wissenschaftlicher Methodologien die zu testenden Szenarios stets gemeinsam mit der Kundschaft. Auch dieser Aufwand beeinflusst den Preis. Bei einer ganztägigen Simulation, inklusive aller Vorbereitungen und der vollen Ausnutzung der Simulationsfläche, landet man eher bei 50000 als bei 5000 Franken. Ein Klacks im Vergleich zu den üblichen Bausummen. Wichtiger als der Preis, ist die Zeitplanung solcher Simulationen. Abläufe entlang der SIA-Phasen sind stets besser als Feuerwehrübungen.
Welche technischen Voraussetzungen braucht es, um die Simulation durchzuführen?
Das ist ebenfalls sehr individuell. Allerdings ist das gesamte Setup, bei aller technischen Komplexität, relativ simpel: Die Simulationsfläche ist ein 560 Quadratmeter grosser Screen, die Wände helfen Räume effizient und präzise zu simulieren und schlussendlich braucht es für das Simulieren von Szenarios keine Schauspielenden sondern genau die Personen, welche die Räume nachher nutzen. Es geht darum, die Expertise und das bisweilen langjährige Wissen von Personen aus der Ärzteschaft, Anästhesie, der Pflege und die Bedürfnisse der Nutzenden in den Prozess zu integrieren. Wer denkt, jemand aus der Pflege mit langjähriger Berufserfahrung, verstehe nichts von Räumen, denkt falsch.
Für welche Branchen neben Architektur und Innenarchitektur kann die Plattform ebenfalls nützlich sein?
Das Zentrum heisst, aus gutem Grund, nicht Swiss Center for Design and Healthcare, sondern einfach nur «and Health». Alle Branchen, in denen Gesundheit und Wohlbefinden eine Rolle spielt, auch das der von Mitarbeitenden, können von den Angeboten des SCDH profitieren. Denken Sie dabei beispielsweise an Arbeitsplatzsicherheit in einem Clean-Room, Prozessoptimierungen in einem Grosslager, ein die Sturzgefahr vermindernder Zugswagoneingang oder einen Velostreifen im öffentlichen Raum. Wenn eine Simulation dabei unterstützt, Gefahren und Unfälle zu vermeiden, hat das sehr schnell und sehr viel mit Gesundheit zu tun. Wir verstehen den Begriff Design – was ja nichts anderes bedeutet als Gestaltung – nicht ausschliesslich als ästhetischen Mehrwert, sondern als konkreten Faktor, der zur Verbesserung des menschlichen, tierischen und planetarischen Lebens beitragen kann. Alles ist designt, selbst die Grösse, Farbe, das Gewicht und die Beschaffenheit eins A4-Blatts wurde einst designt. Die Frage ist also nicht ob, sondern wie etwas designt ist. Deshalb sprechen wir in unserem Fall auch von evidenzbasiertem Design, also von Gestaltung, die sich nicht in erster Linie an ästhetischen, sondern an wissenschaftlich messbaren Parametern orientiert.
Wie kann das «Living Lab» helfen, Projektkosten zu reduzieren?
Die «Living Lab» hilft dabei allfällige Folgekosten zu senken. Ein Projekt wird marginal teurer. Allerdings reicht für eine Simulation mehrerer Aspekte eines Neu- oder Umbaus meist ein Bruchteil der Bausumme. Die Kosteneinsparungen betreffen hauptsächlich zwei Faktoren: Bauliche Anpassungen bereits getätigter Baufehler und, was bei einer durchschnittlichen Nutzungsdauer eines Gebäudes viel stärker einschenkt, die Optimierung jahrzehntelanger Nutzungsprozesse. Ein Chirurg hat mir mal gesagt: «Wenn bei einer vierstündigen Operation der kürzeste Weg zur Toilette durch die sterile Zone führt, dann nehmen wir den kürzesten Weg». Solche Infektionsgefahren erkennt man in einer Simulation sofort. Das SCDH ist noch zu jung und unsere Datenlage aufgrund durchgeführter Projekte noch zu dünn für genaue Zahlen. Wir arbeiten jedoch daran und sind uns bewusst, dass vielen Entscheidungen, eine monetäre Bewertung zugrunde liegt.
In der Gebäudeplanung wird häufig Virtual Reality (VR) als Erlebnis des virtuellen Gebäudes genutzt. Erlaubt sich ein Vergleich mit dem «Living Lab»?
Wir nutzen ebenso verschiedene VR- und AR-Systeme, die eine enorme Unterstützung darstellen, beispielsweise im Bewerten von Signaletikkonzepten. Soll jedoch eine realitätsnahe Situation wie eine Schulteroperation in einem Notfallszenario simuliert werden, dann generiere ich nicht die gleichen Daten im virtuellen wie im physischen Raum. Ein 180 Kilogramm schweres Spitalbett samt der zu Behandelnden verschiebt sich mit einem Joystick in VR einfacher als in einem engen, 15 Meter langen Gang. Auch kommunizieren wir im virtuellen Raum in einer grossen Gruppe anders als im physischen Raum, ganz abgesehen von Aspekten der nonverbalen Kommunikation. Wir sehen den virtuellen und physischen Raum nicht in einer antagonistischen Konkurrenz, sondern als sich sinnvoll ergänzende Räume.
Solange wir physische Häuser bewohnen, in physischen Räumen arbeiten und in physischen Umgebungen mit anderen Menschen interagieren, spielt die Physikalität bei unseren Simulationen eine Rolle.
Wir leben in einer Zeit der zunehmenden Digitalisierung. Ist das «Living Lab» ein Kontrapunkt dazu oder Teil dieser Entwicklung?
Wenn wir als nationales Technologiekompetenzzentrum einen Kontrapunkt zu sinnvollen und notwendigen Bestrebungen der Digitalisierung bilden würden, wäre ich meinen Job los. Bei uns arbeiten Datenanalysierende und KI-Fachleute. Digitale Technologien sind ein beachtlicher Treiber aller wissenschaftlichen und politischen Remote-Care-, Care@home- oder Extented-Hospital-Bestrebungen im In- und Ausland. Hier forscht und arbeitet das SCDH aktiv mit nationalen und internationalen Partnerinnen und Partnern zusammen.
Wie wichtig ist die menschliche Komponente in Ihrem Projekt?
Sie ist und bleibt der Kern jeglicher Interaktion, selbst wenn sie mittels eines technischen Hilfsmittels geschieht. Unser diesjähriges Symposium, welches sich mit verschiedenen Aspekten von Remote Care beschäftigt hat, hat die Wichtigkeit einer pflegenden Person zur Vermittlung zwischen Technologie, digital zugeschalteter Ärzteschaft und die zu Behandelnden deutlich gemacht. Ich weiss, wir denken häufig, dass irgendwann nur noch Pflegeroboter durch die Gänge von Gesundheitseinrichtungen schweben. Kürzlich war ich in Japan. Selbst dort sind mir Roboter nur als Geschirr wegtragende Kübel begegnet. Wir Menschen tendieren dazu, gesamtgesellschaftliche Disruptionen und Trends kurzfristig zu über- und langfristig zu unterschätzen.
Welchen Beitrag zur Forschung kann das «Living Lab» liefern?
Wir sind aktive Partnerin verschiedener nationaler wie internationaler Universitäten und Hochschulen, ohne sie in ihrer Kerntätigkeit zu konkurrieren. Wir bieten ihnen aber auch Möglichkeiten von Testings an, die sie so nicht kennen. Die Tatsache, dass innerhalb sehr kurzer Zeit Forschende der ETH, von Cambridge, dem Central Saint Martins College oder dem Politecnico Milano bei uns im kleinen Nidau waren, zeigt, welch grosses Potenzial in forschungsbasierten Kooperationen besteht.