Nutzung nicht dem Zufall überlassen
Der preisgekrönte Schweizer Beitrag der diesjährigen Architektur-Biennale in Venedig zeigt eine leergeräumte, massstabslose Wohnung. Die Ausstellungsmacher haben eine Vielzahl von Schweizer Wohnungen übereinandergelegt und sozusagen eine «Überblendung» kreiert.

Der preisgekrönte Schweizer Beitrag der diesjährigen Architektur-Biennale in Venedig zeigt eine leergeräumte, massstabslose Wohnung. Die Ausstellungsmacher haben eine Vielzahl von Schweizer Wohnungen übereinandergelegt und sozusagen eine «Überblendung» kreiert. Die dadurch entstandene Schweizer Durchschnittswohnung glänzt mit perfekten Oberflächen und funktionalen Details. Weisse Wände, weisse Decken, durchgehendes Parkett. Alles toll verarbeitet, aber irgendwie auch, wie Danielle Fischer im «tec21» bemerkt «fantasielos korrekt»¹ , um nicht zu sagen: langweilig. Der Unterton war jedenfalls nicht zu überhören: Seht her, dies ist ein Abbild der bitteren Realität des zeitgenössischen Wohnungsbaus, wo diese weissen gesichtslosen Räume zum Standard-Repertoire der Architektur gehören.Was die Ausstellungsmacher im Kleinen anprangern, lässt sich aber auch im Grossen bei zahlreichen aktuellen Neubauquartieren und Stadtentwicklungen beobachten: Allzu häufig dominieren zwar hochwertige, aber eben auch standardisierte Überbauungen, deren Absicht es einzig ist, Ausnützungsvorgaben zu erfüllen und in den Obergeschossen rentabel vermarktbare Wohnungen zu erstellen. Trotz durchdachter Grundrisse und hochwertiger Materialien herrscht im Raum dazwischen, auf Stadtebene, einfach nur «tote Hose»! Aufenthaltsqualität oder gar städtisches Leben scheint gar nicht erst einzuziehen. Was könnten die Planer besser machen?
Eintönigkeit versus lebendige Stadträume
«Menschen kommen dorthin, wo Menschen sind. Kaum etwas ist so spannend, wie anderen Menschen bei Aktivitäten zuzuschauen». Diese Beobachtung des dänischen Stadtplaners Jan Gehl aus dem Jahr 1970 gilt auch heute noch. Menschen empfinden Stadträume gemeinhin als attraktiv, wenn diese belebt und vielfältig nutzbar sind – und Ein- und Ausblicke im Erdgeschoss bieten. Nichts ist so langweilig wie Quartiere, in denen sich die Läden hinter Klebefolien und die Menschen hinter Lamellenvorhängen verbergen. Im Erdgeschoss, an der Stelle, wo das Gebäude auf den Boden trifft, entscheidet sich, ob die Verzahnung zwischen Gebäude und Strassenraum gelingt. Um sinnvolle Verbindungen zwischen Menschen und Orten zu schaffen, ist neben der räumlichen Durchlässigkeit im Sockelbereich die Nutzung der Erdgeschosse und Aussenräume der entscheidende Faktor. Damit dies gelingt, braucht es besondere Anstrengungen.
Nutzung und Identität aufeinander abstimmen
Ein typischer Fehler wie er vielerorts geschieht, ist, dass erst nach Fertigstellung eines Areals oder Gebäudes über die Nutzung der Erdgeschossflächen nachgedacht wird. Überlässt man die Vergabe der Flächen dem Zufall, ist die Gefahr gross, dass diese dann mit den ewig gleichen Versicherungsagenturen und Solarstudios gefüllt werden. Die erwünschte Lebendigkeit des Stadtraums bleibt damit jedoch auf der Strecke. Um die blickdicht verschlossenen Glasflächen und undurchdringlichen Sockel im Erdgeschoss herum geschieht in der Regel nichts – keinerlei Interaktion mit dem Strassenraum.
Wir stellen also fest: es lohnt sich, möglichst früh über auf den Ort abgestimmte Nutzungen nachzudenken und diese in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu stellen.
Wenn wir täglich zum Bäcker gegenüber gehen und ein Brot kaufen, dann «benutzen» wir den Stadtraum und das stärkt wiederherum die Identifikation mit «unserem» Quartier. Besonders stark und stimmig ist eine Nutzung, die zusammen mit der bestehenden und angestrebten Identität eines Ortes entwickelt wird. Es geht also nicht nur darum, eine publikumsintensive, den Aussenraum belebende Nutzung zu finden, sondern diese sollte auch an Charakter und Stimmungen vor Ort anknüpfen. Wie fühlt sich der Mensch in der Stadt? Weshalb vermitteln einige Räume Geborgenheit und Wohlgefühl, andere Leere und Unbehagen? Es zahlt sich aus, in der Planungsphase Zeit und Ressourcen einzusetzen, um genauer hinzuschauen, zuzuhören und Situation und Bedürfnisse vor Ort zu analysieren.
Mit einer Vision, die Nutzung und Identität vereint, zum Erfolg
Die zentrale These lautet: Werden Raum, Nutzung und Identität in Einklang zueinander entwickelt, entstehen Orte, die uns glücklich machen.
Damit dies gelingen kann, ist es essentiell, eine Nutzungs- und Identitätsentwicklung von Beginn an in den Prozess zu integrieren. Dazu braucht es zunächst eine starke übergreifende Vision der angestrebten Quartiers- oder Arealidentität, die in Zusammenarbeit mit Spezialisten und weiteren Beteiligten erarbeitet wird. Diese nimmt Bezug auf typische Eigenschaften des Ortes, gesellschaftliche Trends sowie die Bedürfnisse der bestehenden oder neuen Bewohner und leitet daraus Nutzungsvorgaben ab. Ziel ist es, eine stimmige Gesamtidee zu entwickeln, die dem Quartier einen erkennbaren Charakter mit hoher Publikumsfrequenz verleiht. Um zur richtigen Nutzung auch den passenden Anbieter zu finden, bedingt es eine frühzeitige Einbindung potenzieller Ankernutzer und -mieter. Deren Statements sind sehr wertvoll und oft entscheidend für die spätere Attraktivität und Ausrichtung.
Die Vorteile einer integrierten Nutzungs- und Identitätsentwicklung sind offensichtlich: Es wird ein Beitrag für einen belebten Ort und eine hohe Lebensqualität im städtischen Raum geleistet. Das macht Menschen nicht nur glücklicher, sondern wirkt sich auch wertsteigernd auf angrenzende Grundstücke und Quartiere aus.
Ausblick in die Zukunft
Die fortschreitende Verdichtung und Urbanisierung gefallen nicht allen. Da wo der Platz eng wird, wachsen die Ansprüche an die Qualität des öffentlichen Raumes zur Kompensation. Erst ein Nebeneinander von verschiedenen Nutzungen und Beziehungen macht Dichte positiv erlebbar. Um dies zu gewährleisten, braucht es mehr denn je eine Abstimmung von Raum, Nutzung und Identität.
Ein Blick in die Zukunft wirft viele Fragen auf. Wissen wir überhaupt, wie die Stadt der Zukunft aussieht? Wird der physische Verkaufsladen in Zeiten von Online-Shopping noch gebraucht? Wie arbeiten wir morgen? Um diesen Herausforderungen zu begegnen und vielfältig nutzbare, lebendige Orte zu schaffen, braucht es Unterstützung von Fachleuten und Experten. Es lohnt sich, Nutzung und Identität als eigenständige Disziplin frühzeitig im Entwicklungsprozess zu verankern. ●
Der vorliegende Artikel gehört zur Reihe «Nutzung und Identität», einer Zusammenarbeit von «Architektur+Technik» mit Intosens Urban Solutions AG, Spezialistin für Nutzung und Identität.

