Form Follows Biology

Ute Ziegler, Innenarchitektin, M. A. Kunstgeschichte, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Innenarchitektur an der Hochschule Luzern – Technik & Architektur.

Ute Ziegler
Ute Ziegler, Innenarchitektin, M. A. Kunstgeschichte, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Innenarchitektur an der Hochschule Luzern – Technik & Architektur.
Heilsame Räume
«Es geht nicht länger an, dass wir stillschweigend voraussetzen, der Mensch werde sich durch eine verderbliche und nachlässig konstruierte Umwelt schon hindurchwursteln», forderte 1956 Richard Neutra. Er war in der internationalen Architektur-Szene gewissermassen der Neurologe und verlangte, dass sich Planerinnen und Planer in ganz anderem Ausmass als bisher mit den biologischen Bedingtheiten, vor allem mit dem Nervensystem des Menschen, beschäftigen sollten. Der Mensch sei durch seine technisierte Umgebung biologisch gefährdet und müsse einen «physiologischen Raum» haben, der die schädlichen, oft nicht bewusst wahrnehmbaren Nervenreize von ihm fernhalten soll. Seine Holz-, Ziegel-, Beton- oder Natursteinbauten mit bodenebenen Fensterfronten beziehen auch den Garten, die Landschaft und das Tageslicht mit ein. Dieser «physiologische Raum» wurde in den letzten Jahrzehnten von diversen Disziplinen erforscht. Die Wechselwirkungen zwischen gebautem Raum und Mensch und ihre Auswirkungen auf das menschliche Verhalten wurden vielfach untersucht. Neurowissenschafter fragten insbesondere nach der Wirkungsweise der Projektionen von Grünräumen in den Innenraum und dem Einfluss von Tages- und Kunstlicht.

Genesung dank Umgebung

Roger Ulrich, Pionier der Healthcare-Architektur, verfolgte diese Ansätze mit Evidenz-basierten empirischen Forschungsansätzen. Er analysierte Ende der 70er-Jahre die Daten von zwei Gruppen von Patienten, an denen man identische Operationen durchführt hatte. Eine Gruppe befand sich in einer normalen Spitalumgebung mit Blick auf ein anderes Gebäude. Die Fenster der zweiten Gruppe blickten auf Bäume und eine Parklandschaft. Bei der zweiten Gruppe verkürzten sich die Aufenthalte deutlich, sie nahmen weniger Schmerzmittel, litten seltener unter Depressionen und durchlebten weniger Komplikationen. Das war die Geburtsstunde der Healthcare-Architektur, die streng nach der Maxime baut, dass Umgebung und Ambiente Genesung und Heilung unterstützen.

Die Bedingungen für Räume haben sich durch die fortschreitende Technologisierung verändert. Das wirft bezüglich der Gesundheitsbauten Fragen auf, insbesondere vor dem Hintergrund des derzeitigen Spitalbau-Booms in der Schweiz. Wie sieht ein heilsamer Raum unter den Einflüssen der Technologisierung und Digitalisierung aus? Was braucht er, um die Menschen vor möglichst vielen unangenehmen, oft unbewussten Reizen zu schützen und ihnen physisches und psychisches Wohlbefinden zu ermöglichen? Wie kann der Tatsache Rechnung getragen werden, dass alte und kranke Menschen anders empfinden und andere Bedürfnisse haben als junge und gesunde? Wie können Gefühle von Schutzlosigkeit, Exponierung, Stress, Angst und mangelnder Privatsphäre in räumliche Bedürfnisse übersetzt werden? Diesen Fragen widmet sich die neugegründete Forschungsgruppe für Innenarchitektur der Hochschule Luzern.

Richard Neutras biologisch unterlegter Begriff der Funktionalität könnte ein gutes Paradigma für den Gesundheitsbau werden: «Nur jene Mahlzeit, die wir verdauen können, ist unsere Mahlzeit», sagte Neutra. Auf Räume angewendet bedeutet dies: «Alle Gegenstände unserer Umgebung können, ja müssen als Nahrung für unseren Nervenkonsum betrachtet werden. Sind sie unverdaulich, unassimilierbar, dann können sie niemals auf funktionale Weise die Unseren sein.» Disziplinen wie Innenarchitektur, Architektur und Design müssen bereit sein, sich mit den Grundlagen der biologischen Bedingtheiten des Menschen auseinanderzusetzen.

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