Was Verkehrsplanern so durch den Kopf geht
Das Beispiel ist aktuell und planerischer Alltag: Eine Kleinstadt im schweizerischen Mittelland will sich fit machen für die Zukunft. Nach einem umfangreichen Evaluationsverfahren hat sie ein interdisziplinäres Team damit beauftragt, die Stadtplanung für eine «gedeihliche» Entwicklung in den nächsten 30 Jahre weiterzuentwickeln.

Das Beispiel ist aktuell und planerischer Alltag: Eine Kleinstadt im schweizerischen Mittelland will sich fit machen für die Zukunft. Nach einem umfangreichen Evaluationsverfahren hat sie ein interdisziplinäres Team damit beauftragt, die Stadtplanung für eine «gedeihliche» Entwicklung in den nächsten 30 Jahre weiterzuentwickeln. Eine konventionelle Aufgabe, die mit Routine gelöst werden kann. Dabei handeln Planer wie Theologen: Sie entwerfen Visionen künftiger Paradiese und zeigen in Form der Planungsinstrumente den Heilsweg dahin auf.Soweit ist alles klar. Und die Planung könnte starten. Wenn da nicht einer eine ungewohnte Frage gestellt hätte: «… wie er denn als Frau Meier 2050 das Leben in ihrer Stadt meistern würde? Was heisst für sie Wohn- und Lebensqualität? Und was heisst dies für die qualitative Entwicklung zukünftiger Siedlungs-, Mobilitäts- und Wirtschaftsstrukturen?» Eine einfache, naheliegende Frage. Für die Planer indes ist sie, ihrer Selbstverständlichkeit zum Trotz, ungewohnt und verunsichernd. Sie zwingt, sich von den Statistiken und Excel-Tabellen zu lösen und auf den Menschen zu blicken, sich in die Frau Meier, in ihre Bedürfnisse, ihre Wünsche nach einem glücklichen Leben in der zukünftigen Welt empathisch einzufühlen. Eine Herausforderung, die in der Planerausbildung kaum Thema war (und ist).
Nicht wir machen die Zukunft – sie kommt auf uns zu
Man mag vom World Economic Forum WEF in Davos halten, was man will – mit der vierten industriellen Revolution haben die Veranstalter 2016 ein Thema aufgegriffen, mit dem auch wir Planenden uns auseinandersetzen müssen. Sie wird die Welt, aber auch uns Menschen und unser Zusammenleben verändern: «Computerprogramme und Roboter werden immer besser und dürften in den kommenden 20 Jahren viele Jobs schneller und effizienter erledigen als Menschen. Tausende von Berufen könnten deshalb verschwinden, auch solche, die heute ein gutes Mittelklasseleben ermöglichen.»
Der Historiker Philipp Blom stellt dazu lapidar fest: «Wir werden ärmer werden.» Vielleicht gelten die Vorstellungen einer saturierten Wohlstandsgesellschaft 2050, wie sie den paradiesischen Planungsvisionen einer durchgehend friedlichen und prosperierenden Welt üblicherweise zugrunde liegen, nicht mehr.
Die Welt, für die wir planen, wird eine andere sein
Die vierte industrielle Revolution geht aus von der Digitalisierung, Vernetzung und Automatisierung aller Lebensbereiche – auch der Mobilität. Nach dem Kutschen-, dem Bahn- und dem Autozeitalter zeichnen sich mit autonom fahrenden Mobilitätseinheiten interessante neue Möglichkeiten ab: Die Flexibilität des Individualverkehrs kann sich mit den Vorteilen des öffentlichen Verkehrs verbinden. Anstelle von streckenfixierten Buslinien mit grossen Fahrzeugen werden kleinere Einheiten möglich, die autonom, Nachfrage-orientiert und durchgehend verkehren können.
Und aus dem «Stehzeug» Auto wird ein flexibel nutzbares Fahrzeug, das zum Beispiel frühmorgens die Mutter zur Arbeit fährt und anschliessend nach Hause zur weiteren Verwendung zurückkehrt. Für die Mobilitätsplanung eröffnet diese Entwicklung grosse Chancen. Durch das autonome Fahren können Strassenräume rationeller genutzt und deren Kapazität gesteigert werden. Es werden Leistungsreserven frei, die zum Beispiel für einen Rückbau mehrspuriger Strassen zugunsten des Langsamverkehrs und der Stadtgestaltung genutzt werden können.
Die neuen tangentialen Flexibilitäten im öffentlichen Verkehr reduzieren den Druck auf überlasteten Kerngebiete und unterstützen die Revitalisierung von Quartier- und Gemeindezentren.
Die Entwicklung dieser Techniken ist in vollem Gange, sie sind die Zukunft. Wie und wann sie sich durchsetzen werden, ist offen. Heute gilt es, diese Chancen zu erkennen und eine langfristige Strategie zur Nutzung dieser neuen Möglichkeiten zu entwickeln.
Menschen verhalten sich immer vernünftig
Unterwegs sind Menschen. Wir haben keine Verkehrsprobleme, wir haben Probleme mit Menschen im Verkehr. Unsere Konzepte und Massnahmen haben nur dann Chancen auf Gelingen, wenn sie sich an den Bedürfnissen und Möglichkeiten dieser Menschen orientieren. Dies zeigen Erkenntnisse aus interdisziplinären Forschungsprojekten: «Menschen sind nicht dumm. Sie verhalten sich immer vernünftig – bezogen auf ihren individuellen Nutzen.» Und: «Menschen lernen aus Erfahrung. Sie stellen sich auf neue Situationen ein und wählen das für sie optimale Verhalten.»
Das heisst: Neue Angebote werden nur dann akzeptiert, wenn deren Wahl für die Verkehrsteilnehmer nutzbringender ist als die Weiterführung der Gewohnheit. Dies heisst: Die Pull-Wirkung neuer Angebote muss, um deren Potenzial auch auszuschöpfen, durch Push-Massnahmen flankiert werden, welche die Beibehaltung der bisherigen Gewohnheiten unattraktiv machen (zum Beispiel durch flankierende Rückbauten im Innerortsbereich bei Erstellung einer Umfahrungsstrasse).
Strassenräume sind das Gesicht der Siedlung
Ein wichtiges Handlungsfeld sind die verkehrsbelasteten innerörtlichen Strassenräume. Meist historisch gewachsen, haben sie sich von Wirtschafts- , Präsentations- und Lebensräumen zu monofunktionalen Verkehrsachsen gewandelt. Sie bieten keine emotionalen Bezugspunkte mehr, die dazu einladen könnten, die Geborgenheit im Auto zugunsten der Ausgesetztheit als Fussgängerin oder Fahrradfahrer aufzugeben. Und wenn man dann schon im Auto sitzt, fährt man auch gleich ins nächste Einkaufszentrum. Nutzbar und emotional erlebbar wird die Stadt der kurzen Wege dann, wenn die sichere Koexistenz gegeben ist. Das einfachste, kostengünstigste und wirkungsvollste Instrument dazu ist die Reduktion der Geschwindigkeiten. «Vor dem Hause muss beginnen, was funktionieren soll im ganzen Dorf» – so etwa könnte man ein bekanntes Dichterwort umformulieren. Ab der Haustüre, durch das Dorfzentrum muss sich die neue Mobilitätskultur zeigen. Die sichere Koexistenz und eine sich an Raumbildern orientierende Ästhetik müssen dabei leitend sein. Mass ist der Mensch zu Fuss, denn es ist seine Welt der kurzen Wege. Aus der Praxis stehen heute interessante Instrumente zur Verfügung, die es erlauben, innerörtliche Strassenräume ganzheitlich und qualitativ zu behandeln und auch die dringend nötigen Investitionsanreize in den oft ausgedünnten Dörfern zu schaffen.
Kopernikanische Wende im planerischen Denken
Die Veränderungsprozesse in Technik, Wirtschaft und Gesellschaft werden die Welt stark verändern. Dies stellt Fachleute aus Städtebau und Verkehr vor neue, für sie ungewohnte Fragen nach den Menschen, die morgen in den von ihnen heute geschaffenen Strukturen und Bauwerken ihr Leben meistern müssen. Um Antworten zu finden, ist ein neues Verständnis nötig: Vor aller Technik sind Städtebau und Verkehrsplanung geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen, die sich um die Menschen kümmern.


